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Zu Verstehen, was dein Pferd sieht, schafft Vertrauen

Wie sehen Pferde eigentlich?
Pferde haben – allein schon biologisch bedingt – eine ganz andere Sichtweise auf die Welt als wir Menschen. Ihre Sehfähigkeit beeinflusst ihr Verhalten im Alltag und im Training besonders stark. Es liegt in unserer Verantwortung, unseren Pferden zuzuhören und auf ihre individuellen Voraussetzungen Rücksicht zu nehmen, damit sie sich in unserer Menschenwelt so gut wie möglich zurecht finden können. Um die Verständigung von Pferd und Mensch zu verbessern und auch das Bewusstsein für die Unterschiede in unserer Wahrnehmung zu schaffen, möchten wir euch hier pferdewissenschaftliche Erkenntnisse für den Stall mitgeben.
Pferdeaugen liegen, anders als unsere, seitlich am Kopf, was ihnen ein erstaunliches Gesichtsfeld von fast 350° ermöglicht. Aber dieses weite Blickfeld bringt nicht automatisch beste Rundumsicht, sondern auch besondere Herausforderungen, die für uns als Menschen nicht sofort offensichtlich sind.
Monokulares und binokulares Sehen
Pferde können den Großteil ihrer Umgebung mit nur einem Auge wahrnehmen – das nennt man monokulares Sehen. Es ermöglicht ihnen, Bewegungen und Gefahren schnell und von fast allen Seiten zu erkennen, aber ohne Tiefe wahrzunehmen. Für eine räumliche Wahrnehmung benötigen sie, wie Menschen auch, beide Augen gleichzeitig, doch der Bereich, in dem sie binokular (also mit beiden Augen) sehen, ist vergleichsweise klein. Das erklärt, warum Pferde oft den Kopf bewegen (müssen), um Objekte oder Hindernisse besser einzuschätzen. Wenn dein Pferd also den Kopf hebt oder sich sogar selbst umdreht, um in die Ferne zu blicken, wie zum Beispiel auf der Weide, hilft ihm das, seine Umgebung detaillierter wahrzunehmen.
Die Bedeutung der Kopfposition im Training
Ein wichtiger Aspekt, den viele Reiter und Trainer oft übersehen, ist, wie das Blickfeld des Pferdes beeinflusst wird, wenn es “rund und tief” geritten wird. Pferde, die zu stark hinter der Senkrechten gehen, verlieren einen großen Teil ihres Sichtfeldes nach vorne. Dies erschwert es ihnen, Objekte wie Stangen am Boden rechtzeitig zu erkennen. Um sich dessen bewusst zu werden, kann man selbst einmal ausprobieren, das Kinn auf die Brust zu legen und so einen Spaziergang zu unternehmen. Das fühlt sich gar nicht gut an, oder?
Auch bei der Vertrauensarbeit, beispielsweise mit Pyrotechnik, Fahnen oder dem Vertrauenswürfel aus Vorhang und Gasse, ist es wichtig, dass die Pferde sich umschauen und ihre Umgebung selbst einschätzen können, damit sie aufgeschlossene gelassene Entdecker werden!
Tote Winkel: Ein Risikofaktor im Umgang
Trotz ihres breiten Blickfeldes haben Pferde zwei tote Winkel – direkt vor ihrem Kopf und hinter ihrem Schweif. In diesen Bereichen können sie nichts sehen, was sie besonders schreckhaft macht, wenn unerwartet etwas in diesen Zonen auftaucht, beispielsweise ein Ball von hinten an sie heranrollt. Daher ist es immer ratsam, diese toten Winkel im Umgang und Training mit dem Pferd zu berücksichtigen.
Bewegungen im Sichtfeld: Sensibilität und Fluchtinstinkt
Pferde sind Meister darin, selbst kleinste Bewegungen in ihrem monokularen Sichtfeld wahrzunehmen. Dieser hohe Grad an Bewegungssensibilität ist ein wesentlicher Teil ihres Fluchtinstinkts und erklärt, warum sie auf unerwartete Bewegungen, die wir Menschen häufig gar nicht wahrnehmen, etwa einen wehenden Ast oder ein plötzlich auftauchendes Tier, zum Teil heftig reagieren.
Nachtsicht: Bessere Wahrnehmung bei Dunkelheit
Wusstest du, dass Pferde im Dunkeln besser sehen können als Menschen? Ihre Augen sind an das Sehen in der Dämmerung angepasst, sodass sie bei schlechten Lichtverhältnissen mehr erkennen können. Die Struktur im Pferdeauge, die dafür vorrangig verantwortlich ist, heißt Tapetum lucidum, reflektiert das einfallende Licht und sorgt ähnlich wie bei z. B. Füchsen dafür, dass das wenige Licht “doppelt genutzt” wird. Das ist besonders im Umgang mit Pferden in der Dämmerung oder nachts wichtig, da sie auf Schatten und Bewegungen weiterhin gut reagieren können, während wir Menschen bereits Probleme haben, Details zu erkennen.
Anpassung an Lichtwechsel: Geduld ist gefragt
Ein oft übersehener Aspekt ist die langsamere Anpassung von Pferden an plötzliche Lichtwechsel. Während Menschen recht schnell von hell zu dunkel und umgekehrt sehen können, brauchen Pferde mehr Zeit, um ihre Augen an veränderte Lichtverhältnisse anzupassen. Dies ist besonders in Ställen oder Reithallen wichtig, wo die Lichtverhältnisse innerhalb weniger Schritte rasch wechseln können. Hier sollten wir Rücksicht auf die Pferdeaugen nehmen.
Farbsehen: Ein anderer Blick auf die Welt
Obwohl wir in einem späteren Beitrag mehr auf das Farbsehen von Pferden eingehen werden, ist es wichtig zu wissen, dass Pferde die Welt anders sehen als wir. Sie sind dichromatisch, was bedeutet, dass sie hauptsächlich Blau- und Gelbtöne wahrnehmen. Farben wie Rot oder Grün erscheinen ihnen eher in Zwischentönen. Das kann erklären, warum dein Pferd manchmal anders auf Hindernisse oder Objekte reagiert, die für uns farblich gut erkennbar sind.
Sehschärfe und Fokussierung: Weniger Details, schnellerer Wechsel
Pferde haben eine geringere Sehschärfe als Menschen. Sie sehen Objekte in der Ferne nicht so scharf wie wir, aber sie können viel schneller als wir zwischen Nah- und Fernsicht wechseln. Das liegt an der großen Pupille, die sich rasch an verschiedene Entfernungen anpasst. In einer dynamischen Umgebung hilft ihnen diese Fähigkeit, sich schnell auf neue Situationen einzustellen, auch wenn sie weniger Details als wir Menschen wahrnehmen.
Zu verstehen, wie Pferde sehen, schafft Vertrauen
Wenn wir wissen, wie Pferde die Welt wahrnehmen, können wir ihre Reaktionen besser deuten und das Training gezielt darauf abstimmen. Pferde drehen beispielsweise ihren Kopf nicht aus Ungehorsam, sondern um ihre Umgebung besser einschätzen zu können. Im Training und in der Gelassenheitsarbeit sollten wir ihnen die Möglichkeit geben, Objekte klar zu erfassen und sich so sicher und selbstwirksam zu fühlen.
Es ist schwierig, die Welt aus den Augen eines Anderen wahrzunehmen, aber unseren Pferden zuliebe sollten wir es immer mal wieder versuchen!